Am Wochenende stimmen wir darüber ab, welche Parteien mit ihren Inhalten die zukünftigen Politikfelder bestimmen dürfen. Wie sieht es im Bereich Mobilität aus? Ein Thema, dass uns bei REFLECTIVE sehr am Herzen liegt.

Ein Kommentar von REFLECTIVE Geschäftsführer Eberhard Schilling

Die guten alten Zeiten

Da wir uns mit REFLECTIVE Berlin für eine nachhaltige Verkehrswende einsetzen, dachten wir, dass sich angesichts der anstehenden Bundestagswahl ein Blick darauf lohnt, wie sich die politischen Parteien in der Verkehrspolitik positionieren und die Mobilität der Zukunft gestalten wollen.

Der allgemeine politische Trend ist ja doch eher ernüchternd. Er zelebriert den Rückschritt und blickt man auf die aktuellen Umfragen, dann wird das wohl auch beim Thema Verkehr und Mobilität nicht anders sein: mehr Auto als Fahrrad, mehr Straße als Schiene, mehr für alt als für jung. “Konzepte” konservativer Programme orientieren sich an den “guten alten Zeiten”, obwohl die Welt heute eine ganz andere ist: vernetzt, verdichtet, erhitzt, und mit knappen Ressourcen.

Radfahrende Menschen bei Sonnenuntergang auf dem Tempelhofer Feld

Einmal Auto, immer Auto

Nachdem wir in Berlin bereits seit einem Jahr die bittere Erfahrung machen müssen, dass der Erhalt von Parkplätzen wichtiger ist als der (gesetzlich beschlossene) Infrastrukturausbau für Fahrrad und ÖPNV, könnte uns bundesweit diese Priorisierung des motorisierten Individualverkehrs ebenfalls blühen: Verbrenner-Aus anfechten, Tempolimit begraben, Dienstwagensubventionierung beibehalten, Fahrradwegebau stoppen.

Wie sich das anfühlt? Nach überholter Politik in einer sich verändernden Welt: Wir sperren uns gegen die neuen Realitäten, indem wir propagieren, was doch eigentlich immer ganz bequem war. Dabei hat sogar die EU-Kommission erkannt, dass das Fahrrad ein entscheidendes Element in der europäischen Verkehrswende ist. In ihrer EU Cycling Declaration stellt die Kommission handfeste Forderungen auf, von der Priorisierung von Radinfrastruktur in der Stadtverkehrsplanung über niedrigere Zugangsbarrieren für den Umstieg aufs Rad bis hin zu Kampagnenarbeit und Förderung des gesamten Wirtschaftszweigs.

Familie mit Lastenfahrrad

Ideologische Scheuklappen sind kein grünes Monopol

Hey, wir bei REFLECTIVE könnten uns natürlich auch freuen, wenn das stramme Festhalten am Auto und dessen fortschreitender Raumergreifung im urbanen Lebensraum gleichzeitig bedeutet, dass Sichtbarkeit und Sicherheit für Radfahrende nicht an Bedeutung verliert, im Gegenteil. Aber was ist mit den Themen, die alle Menschen tangieren? Flächengerechtigkeit? Lärmschutz? Luftverschmutzung? CO2-Emissionen? Verkehrssicherheit?

Die ideologische Verbohrtheit, die ökosozialen Konzepten oft vorgeworfen wird, könnte man demnach mindestens genauso gut den konservativen Ankläger*innen vorhalten, da sie auf der Beibehaltung von Privilegien einer relativen Minderheit pochen und sich Lösungsansätzen verweigern, die sich den Herausforderungen unserer Zeit stellen: Klimawandel, Vermögenskonzentration oder Chancengleichheit, um mal die ganz großen zu nennen.

Fahrrad und ÖPNV bieten die besseren Antworten

Mobilitätskonzepte und verkehrspolitische Leitsätze müssen sich unter diesen Gesichtspunkten durchaus einer kritischen Analyse unterziehen. Auch mit gutem Willem fällt es einem wirklich schwer, eine Förderung des Autoverkehrs zuungunsten von ÖPNV, Schiene und Fahrrad als sinnvoll zu erachten. Gepaart mit Kampagnen gegen das geplante EU-weite Verbrenner-Aus oder Steuersenkungsversprechen für Besserverdienende mutet das alles fast schon absurd an. Zumal es bereits wissenschaftlich erarbeitete innovative Mobilitätskonzepte gibt, die fundierte ideologiefreie Handlungsanweisungen bieten.

Gruppe junger Leute fahren Fahrrad

Sichere Radinfrastruktur und ein zuverlässiger ÖPNV sind ganz entscheidende Faktoren für sozialen Zusammenhalt, Klimaschutz und Wirtschaftswachstum. Die Automobilbranche ist ein schrumpfender Markt, das können auch noch dickere Autos mit noch mehr (Elektro-)PS nicht überdecken. Die Fahrradwirtschaft hingegen ist eine Zukunftsbranche, die Antworten auf viele politische Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft bereithält. Alle, die sich für die Förderung einer niedrigschwelligen, gesundheitsförderlichen und klimaneutralen Form der Mobilität einsetzen wollen, sollten wissen, wo sie am Sonntag ihr Kreuz (nicht) machen.

Mehr Mut für eine positive Vision, die anderswo längst Realität ist

Wir von REFLECTIVE verfolgen weiterhin die Vision eines Stadtbildes mit mehr Platz für Rad- und Fußverkehr, in dem sich auch jene sicher fühlen können, die kein Auto besitzen (wollen) um von A nach B zu kommen. Eine Lebensumgebung, die mehr für Menschen konzipiert ist als für Autos. Mit guter Luft zum atmen und sicheren Wegen für nachhaltige Verkehrsmittel, die allen gleichermaßen zugute kommen. Anderswo wird es vorgemacht, es spricht also nix dagegen, dass wir das nicht auch können.

Eberhard Schilling